Null Punkte für Unterdrückung

Dringender als den Eurovision Song Contest benötigt Aserbaidschan demokratische Reformen. Ein Kommentar

veröffentlicht im SÜDLINK, dem Nord-Süd-Magazin von Inkota, 03/2012 >>

„Azerbaijan: douze points!“ Dass die Südkaukasusrepublik von Russland und der Türkei zum Gastgeber des Eurovision Song Contest (ESC) gekürt wurde, verwundert nicht – ebenso wenig, dass das verfeindete Armenien keinen Punkt gab. Der ESC ist trotz seichter Lieder und Formate alles andere als unpolitisch. Genauso wenig wie beim Fußball stehen hier die Leistungen einzelner KünstlerInnen zur Debatte, sondern Sympathien und Animositäten, Selbst- und Fremdbilder ganzer Staaten. So sagte der Intendant des aserbaidschanischen Staatsfernsehens, Ismail Omarow, nach dem Erfolg der (aus schwedischer Feder stammenden) Popschnulze: „Das ist ein historischer Sieg, ein absoluter Sieg der aserbaidschanischen Kultur und Musik.“
Vor allem aber könnte es ein Sieg für den autoritär regierenden Präsidenten Ilcham Alijew werden, der das internationale Image seines Ölreichs durch Megaevents aufpolieren möchte – auch für die Austragung der Olympischen Sommerspiele 2020 hat sich Aserbaidschan beworben. Die „Säuberungsaktionen“ haben längst begonnen: Wie in Beijing vor den Olympischen Spielen werden auch in Baku Tausende BewohnerInnen mit Gewalt aus ihren Häusern vertrieben und quasi enteignet, um Platz für ein Potemkinsches Dorf mit millionenschwerer Veranstaltungshalle zu schaffen. Die Menschenrechtslage hat sich nach dem ESC-Gewinn 2011 noch verschlechtert: In Baku wurde seither nicht eine einzige Kundgebung der Opposition genehmigt, AktivistInnen, Journalisten und Kritiker werden aus fadenscheinigen Gründen verhaftet.
Wes’ Geistes Kind auch die Veranstalter sind, zeigt sich schnell: Auf die Menschenrechtslage in Aserbaidschan angesprochen schrieb der Präsident des aserbaidschanischen Eurovision-Fanclubs, Fariz Gasimli, in einem Forum: „Demokratie ist kein Patentrezept und ist nicht auf jedes Land anwendbar; was wirklich zählt sind Macht und Einfluss – etwas anderes zu glauben wäre naiv.“ Und Intendant Omarov engagiert sich für das Staatliche Komitee zur Aufklärung von Vermissten und Geiselnahmen – durch „armenische Terroristen“ wohlgemerkt.
Macht sich der Westen nicht mitschuldig, wenn er für die Selbstinszenierung eines autoritären Regimes Sendezeit und Fernsehmillionen spendiert? Wäre ein Boykott nicht angebracht – oder zumindest der langfristige Ausschluss von Aserbaidschan, Weißrussland und Russland aus dem ESC? Nein. Denn Alijews Ziel – internationale Aufmerksamkeit – ist auch sein größtes Risiko: Internationale TeilnehmerInnen und Berichterstatter sollten das Medienecho im Gegenteil nutzen, um endlich die Menschenrechtssituation in einem Land zur Sprache zu bringen, das die meisten zuvor nicht einmal auf der Karte gefunden hätten. Darüber hinaus sollte das ESC-Komitee klare Bedingungen samt Sanktionen für Gastgeber und Gäste formulieren – wie 2009, als Aserbaidschan die Mitgliedschaft zu verlieren drohte, nachdem das Sicherheitsministerium Bürger einbestellt hatte, die für Armenien gestimmt hatten.
Armenien wird zur allgemeinen Überraschung übrigens am ESC teilnehmen – und das, obwohl es bislang ein Einreiseverbot für ArmenierInnen gab. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist der Grand Prix zur Völkerverständigung gegründet worden; wenn wir Unterhaltung nicht als unpolitisch missverstehen, kann er dies vielleicht wieder erreichen.

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