Die Ästhetik des Unsichtbaren

„Clothing“ heißt die Serie der niederländischen Fotografin Judith Quax – „Kleidung“, nichts weiter. Mehr ist ja auch nicht zu sehen auf den puristischen Fotos: Shirts und Jeans an einem verlassenen Strand. Sand und Wasser dringen in die Ärmel, blähen den Rumpf auf und nehmen langsam die Form der Körper an, die diese Kleider gerade noch trugen.

veröffentlicht im SÜDLINK, dem Nord-Süd-Magazin von Inkota, 09/2011, S.32 >>

„Clothing“ heißt die Serie der niederländischen Fotografin Judith Quax – „Kleidung“, nichts weiter. Mehr ist ja auch nicht zu sehen auf den puristischen Fotos: Shirts und Jeans an einem verlassenen Strand. Sand und Wasser dringen in die Ärmel, blähen den Rumpf auf und nehmen langsam die Form der Körper an, die diese Kleider gerade noch trugen.
„Als ich an diesem Strand im Senegal spazieren ging, bemerkte ich plötzlich, dass überall angeschwemmte Kleidung lag“, schrieb Quax über ihre 2009 entstandene Serie. „Ich fragte mich, was mit ihren Besitzern geschehen war.“ Entstanden sind Bilder der Abwesenheit, die das Wesentliche nicht zeigen – und eben darin liegt ihr stiller Schrecken: Unsichtbar die Menschen, die diese Kleider gerade noch trugen. Unsichtbar ihr Schicksal auf hoher See. Unsichtbar auch die Gewalten, die ihnen das Leben nahmen, noch bevor das Meer den Tod brachte: Waren es diktatorische und korrupte Regimes? Bürgerkriege? Naturkatastrophen?
Wohl kaum: Der Strand gehört zum Fischerdorf Yoff nahe der senegalesischen Hauptstadt Dakar. Jahrhunderte lang versorgte das Meer die Bewohner mit Arbeit und Nahrung. Doch seit europäische Trawler die westafrikanische Küste leer fischen, bleibt den Seeleuten nichts anderes, als ihre Boote zu verkaufen und eine letzte Reise zu wagen: auf die Kanarischen Inseln, den Vorposten Europas im Atlantik.
Mit den körperlosen Portraits von „Clothing“ scheint Judith Quax ihre erste Senegal-Serie fortzusetzen: Für „Immigrants” („Einwanderer“) hielt sie 2007 die verlassenen Zimmer junger Migranten fest. Durchgelegene Matratzen, flatternde Gardinen, ein auf links gezogenes Shirt in der Brandung: Quax zeigt Westafrika als verlassenen Ort – voller Spuren, die auf eine andere Zeit und einen anderen Ort verweisen.
Diese Ästhetik der Abwesenheit verdeutlicht auch den grundlegenden Charakter der afrikanischen Migration nach Europa: Vom Moment ihrer Abfahrt werden die Auswanderer unsichtbar, heimlich, illegal. Selbst wenn sie die „Festung Europa“ unbeschadet und unbemerkt erreichen, leben sie hier im Verborgenen, ohne Ärzte, soziale Stütze oder juristischen Beistand – und das im vollen Bewusstsein der europäischen Öffentlichkeit.
Mit diesem Bewusstsein spielt Quax’ Serie: Der Gegensatz zwischen dem farbenfrohen, in der Brandung ruhenden „Clothing“ und seiner tödlichen Botschaft erschüttert den europäischen Betrachter – und doch wird unsere unmenschliche Migrationspolitik fortbestehen. Die Bewohner von Yoff konnten die Kleidungsstücke sicher gar Freunden und Nachbarn zuordnen – und doch werden sie auch in Zukunft in überfüllte Schleuserboote steigen.