Der Mitmischer – Bastis Draht zum Bundestag

Auf dem Jugendportal mitmischen.de chatten Abgeordnete einmal im Monat mit Jugendlichen zu aktuellen politischen Themen – und werden dabei oft selbst zu Schülern.

verbreitet von der Nachrichtenagentur epd, Abdruck in der ‘Frankenpost’  >> und den ‘epd Nachrichten’

Eben noch hat Petra Pau eine Bundestagssitzung geleitet, jetzt verschwindet sie hinter einem Computerbildschirm. “@$basti$ – was heißt ‚moinsen’?” tippt die Vizepräsidentin des Bundestags mit zwei Fingern in die Tastatur. Auf dem Jugendportal “mitmischen.de” chatten Abgeordnete einmal im Monat mit Jugendlichen zu aktuellen politischen Themen – und werden dabei oft selbst zu Schülern.

“Yeahhh gute frage, frau Pau 🙂 ;)”, erscheint als Antwort auf dem Schirm. “‚moinsen’ ist die jugendliche sprachweiterentwicklung von ‚moin’.” Die Abgeordneten lachen. “So ein Spezi!” ruft Wolfgang Wieland von den Grünen und winkt Pau über den Tisch hinweg zu. Ihm geht es nicht besser, seine Tastatur hat er einem Mitarbeiter überlassen, dem er mit gesenkter Stimme die Antworten diktiert. Gegenüber bespricht sich Michael Bürsch von der SPD mit seiner jungen Mitarbeiterin, ehe diese munter in die Tasten haut.
Der „Spezi“ heißt eigentlich Bastian Schleitzer, ist 18 Jahre alt und Lehrling im Einzelhandel. Er sitzt 400 Kilometer nordwestlich von Berlin in der holsteinischen Kleinstadt Heide vor seinem Laptop und grinst über seine kesse Antwort. “Wenn Petra Pau mir jetzt gegenüber stehen würden, wäre ich schon ein wenig aufgeregt”, gibt Bastian zu und streicht sich über die stoppelkurzen blonden Haare. “Doch beim Chatten vergesse ich schnell, wen ich vor mir habe und die Themen werden zur Hauptsache.”
Bastian gehört zu einer Generation, die nicht beschwipst am Gitter des Kanzleramts rüttelt, sondern sich ganz pragmatisch mit den Abgeordneten verdrahtet. “Ich muss ja erst mal wissen, was die Parteien wollen, ehe ich über Politik meckern kann.” Bis vor zwei Jahren besuchte Bastian die Hauptschule und interessierte sich vor allem für Fußball und Computer. “Hereingeschliddert” ist er in die Politik über das Jugendportal des Bundestags, das ihm eine Lehrerin empfohlen hat. Heute ist er einer der aktivsten Nutzer bei „mitmischen.de“ und seit einem Jahr auch offline politisch aktiv: bei den Jusos in Dithmarschen.
Das Jugendportal ist zur Bundestagswahl 1998 als Teil einer Erstwählerkampagne entstanden, den Chat gibt es seit vier Jahren. Mittlerweile tauschen sich über 8.000 Jugendliche und 155 Abgeordnete über das Portal aus. Nathalie Hillmanns-Weis, Referentin der Internet-Redaktion, blickt fasziniert auf eine Projektionsfläche, über die das Chatgespräch dahinrast: “In dem Tempo könnten sich 30 Jugendliche und vier Politiker unmöglich austauschen, wenn alle in einem Raum säßen.” Der Chat ist für sie “ein Phänomen, weil die Jugendlichen mit den Abgeordneten wirklich auf Augenhöhe kommunizieren. Die Jugendlichen sind in diesem Medium zu Hause, die Politiker müssen mit ihren Themen in ihre Welt kommen.”
Nur wenige “Mitmischer” wohnen in Berlin oder in anderen Großstädten: “Das Portal stärkt vor allem Jugendlichen aus der Provinz den Rücken, die nicht mit dem Bundestag in der Nachbarschaft aufwachsen”, sagt Hillmanns-Weis. Bastian kann von seinem Fenster aus die Dorfstraße und die Eisdiele der Kleinstadt Heide sehen, doch er hat nur Augen für den Bildschirm, auf dem er gerade eine Debatte über den Straßenfoto-Dienst “Street View” von Google angestoßen hat. Als Politik-Spezi gilt Bastian auch in seiner Klasse; seine Freunde teilen sein Interesse für politische Themen nur vor Wahlen und nach Katastrophen. Ihnen würde es gar nicht einfallen, am Chat teilzunehmen. Das ist auch Hillmanns-Weis bewusst: „Wir erreichen leider nur Jugendliche, die sich ohnehin schon für Politik interessieren.“
Das Chatgespräch, das nach einer Stunde fast 30 Seiten umfasst, erscheint einem Außenstehenden wirr und versponnen. Erst wer näher hinsieht, erkennt die roten Fäden. Wieland stichelt gegen die Abwesenheit der CDU, “flauschi” verwickelt Bürsch in einen rhetorischen Zweikampf um die Vorratsdatenspeicherung und “Datenschutz” ruft dazwischen: “Zensur, Zensur”. Ein Schauspiel in 300 Beiträgen.
Nach einer Stunde sind die Abgeordneten sichtlich erschöpft: “Das virtuelle Leben in Apparaten, das viele Jugendliche heute führen, wäre nichts für mich”, sagt Wieland. Der 61-Jährige lächelt versonnen und lässt viele feine Falten sehen: “Ich fände es höchst unbehaglich, wenn alles, was ich als Student so gesagt und geschrieben habe, online nachzulesen wäre.”
Im Online-Netzwerk Facebook steht Barack Obama auf Bastians Freundesliste. Von Angela Merkel würde er sich gerne mal das Kanzleramt zeigen lassen. “Das klingt jetzt vielleicht komisch”, sagt Bastian und streicht verlegen über die Tastatur. Aber er bewundere die beiden. Für ihre Wege vom Sozialarbeiter zum mächtigsten Mann, von “Kohls Mädchen” zur mächtigsten Frau der Welt. Und Bastians Weg? 400 Kilometer sind es von der Kleinstadt Heide bis zum Berliner Bundestag. Er lacht, als fühlte er sich bei einem Gedanken ertappt.