Bürgerjournalisten: Revolution an der Graswurzel

Die Bürgerjournalisten von InsightShare oder Rising Voices glauben an die beste aller möglichen Welten: Eine Welt, in der die Entrechteten ihre Stimme erheben. Wie Keidy und Rezwan, die sich virtuell engagieren und dafür ganz real bedroht werden.

Im März 2011 wurde mein Text (in der englischen Übersetzung) auf der Shortlist des Minority Voices Young Journalism Award ausgezeichnet; nachzulesen ist er auf Einloggen13, dem mit heißer Nadel gestrickten Online-Magazin der Ev. Journalistenschule >>

Wie ein Revolutionär sieht Fernando Mangili nicht aus. Jungenhaft schmal hockt er auf dem Boden, das Mikrophon ist ihm in den Schoß gefallen. Nur sein wettergegerbtes Gesicht verrät die 40, vielleicht 50 Jahre. Karg ist die Erde unter ihm, licht und öde der Wald, doch Mangilis Gesicht zeigt eine andere Landschaft: Lachfalten und Hoffnungsschimmer. Die Kamera, mit der die jungen Leute auf ihn zielen, scheint er gar nicht mehr wahrzunehmen.

Kein Journalist der Welt hätte Fernando Mangili so aufnehmen können wie die 23-jährige Keidy Transfiguracion und zehn weitere Aktivisten aus der Region, oben in den Bergen der philippinischen Nordinsel. Mangili misstraut den philippinischen Mainstream-Medien, die die Situation der indigenen Bevölkerung ignorieren und aus Angst vor Verfolgung die korrupte Regierung decken. Anders Keidy und ihre Freunde: Als sie während eines Workshops des britischen Videolabors InsightShare den Dokumentarfilm „Es-Esel Ja Eparas“ („Stimmen mit Erfahrung“) drehen, haben sie die Dorfbewohner auf ihrer Seite: Schließlich sind sie ebenfalls Indigene, sprechen Filipino und stellen die richtigen Fragen. Am Ende eines jeden Drehtags versammelt sich das ganze Dorf in Feiertagslaune auf dem Marktplatz, um die Aufzeichnungen anzusehen. Dann kann Mangili entscheiden, wie er sich im Film sehen will – und wie nicht.

Fernando Mangili im Interview mit jungen Indigenen, Filmstill: InsightShare, CC-by-nc-nd 2.0

Wo zu Mangilis Jugendzeit Affen und Wildschweine durch den Regenwald tobten, beugen sich heute Steppengräser und faule Früchte unter Sturm und Hitze. Der Kampf gegen die Zerstörung der natürlichen Umwelt verbindet die alten und die jungen Indigenen: Wo Mangili und seine Leute in den Neunziger Jahren die Zufahrtswege zur Goldmine blockierten, stehen ihre Kinder heute vor einem abstrakteren Gegner; dem globalen Klimawandel können sie nur mit globaler Medienarbeit begegnen.

 

Lage des Dorfs Garrison in der philippinischen Cordillera, Karte: Google-Maps, CC-by-nc-nd 2.0

Medienprojekte wie InsightShare oder das Bloggerportal Rising Voices glauben an die beste aller möglichen Welten: Eine Welt, in der die Entrechteten ihre Stimme erheben, in der Randgruppen in den Mittelpunkt treten und indigene Völker ihr traditionelles Weltbild mit modernster Technik aufzeichnen. Wenn sich ein medienpädagogischer Workshop verselbstständigt und die Gruppen eigenmächtig für ihre Rechte zu kämpfen beginnen, kommt der Bürgerjournalismus endlich dort an, wo er immer hinwollte: in den Händen der Schwächsten.

“Digitale Umweltverschmutzung” oder “Fünfte Säule der Demokratie”?

Bürgerjournalismus – für viele professionelle Journalisten ist schon der Begriff ein Oxymoron, ja, ein Angriff auf ihre Berufsehre. Einige begegnen den “digitalen Umweltverschmutzern”, den “Sonntagsfahrer auf den Datenautobahnen” mit Spott, andere fürchten die scheinbare Konkurrenz – und alle bedienen sich gern bei ihnen. Bürgerjournalismus ist eine Wundertüte; über die Qualität der Beiträge in den Heise-Foren, die ideologischen Grabenkämpfe bei Indymedia und die Relevanz der meisten der weltweit rund 115 Millionen Blogs ließe sich trefflich streiten. Die Kunst liegt darin, inmitten des unbezahlten, unredigierten und womöglich unrecherchierten Zeichensalats die wirklich unabhängigen, verlässlichen, weitreichenden und relevanten Informationen auszumachen – Eigenschaften, die für Wikipedia den Bürgerjournalismus im engeren Sinne erst ausmachen.

Die meisten Bürgerjournalisten wollen gar nicht in Konkurrenz zu den etablierten Medien treten, sondern eine zivile Gegenöffentlichkeit schaffen: Sie sehen sich als fünfte Säule des Staates, die Demokratie und Menschenrechte hochhält, wenn rundum alles in Trümmern liegt. Als der bengalische Student 2003 seinen Third World View gründete, ahnte er noch nicht, wie wichtig sein Blog einmal werden würde. Mit seinen Grußbotschaften in nostalgischer Papyrusoptik gehörte er in Bangladesh zur Online-Avantgarde. Erst als 2004 der Unicode-Standard für die Bengali-Schrift festgelegt wurde und sich 2005 die ersten Blogger-Plattformen gründeten, wurde der Sport der Nerds zum Mainstream der jungen Bildungselite. Heute bloggen rund 50.000 Bengalis – allerdings viele aus der Diaspora. Nicht ohne Grund.

Rezwan bloggt über Repressionen in Bangladesh (2007), Screenshot, CC-by-nc-nd 2.0

Die Sternstunde für Rezwans Blog war ein trauriger Tag für sein Land: Am 11. Januar 2007 wurde der Notstand verhängt, nachdem Parlamentswahlen manipuliert und Unruhen ausgebrochen waren. Fast 100.000 Menschen ließ die bengalische Regierung damals verhaften. Rezwans Blogger-Freund entkam nur knapp: Tasneem Khalil blieb nach seiner Kritik am bengalischen Militär nur das schwedische Exil. Auf Rezwans Blog hagelte es hasserfüllte Kommentare, doch er war außerhalb der Schußlinie, in Berlin. Sein Third World View wurde zu einem sogenannten „Bridge Blog“; mehrmals täglich durchforstete Rezwan die bengalischen Medien und ordnete die brisantesten Neuigkeiten für eine englischsprachige Weltöffentlichkeit ein. Er war weit weg und doch mitten drin.

Anonymer Aktivist

Offline muss Rezwan Buchhalter werden, online darf er Aktivist sein; in seinem Land würde ihm kein Politiker zuhören, im Internet hat er täglich 200 bis 300 Leser. Gerade berichtete er darüber, dass die bengalische Regierung Facebook gesperrt hat, weil Mohammed-Karikaturen durchs Netzwerk geisterten. Sorgfältig zitiert er andere Blogger, hinter deren Statements er seine eigene Kritik dezent versteckt. Seit den Ausschreitungen 2007 nimmt Rezwan sich in Acht: Er gibt weder seinen Nachnamen noch sein Alter preis, während des Skype-Interviews bleibt seine Webcam ausgeschaltet. Das einzige Bild, das von ihm im Netz kursiert, zeigt daumennagelgroß einen gutaussehenden jungen Mann – einen unter Tausenden. “Nur solange ich anonym bleibe, bin ich frei zu schreiben, was ich möchte“, sagt Rezwan. „Ich wäre gern ein professioneller Journalist, doch dann müsste ich meinen Namen nennen und meinen Aktivismus begraben.“

„Die Welt spricht zu Dir, hörst Du zu?“

2007 wurden auch die Betreiber des wichtigsten Portals für globalen Bürgerjournalismus auf den bengalischen Blogger aufmerksam: Global Voices veröffentlichte Auszüge seiner Features aus dem Polizeistaat – eine Ehre in der Netzgemeinde. Tripod-Gründer Ethan Chairman und die ehemalige CNN-Büroleiterin Rebecca MacKinnon haben das Netzwerk im Dezember 2004 gegründet, um den interessantesten Perspektiven von Bürgerjournalisten in der ganzen Welt ein Podium zu bieten. Das Motto: „Die Welt spricht zu Dir, hörst Du zu?“ Eine Millionen Besucher monatlich beantworten diese Frage mit “ja”. Über 300 ehrenamtliche Mitarbeiter in aller Welt beobachten die Blogosphäre in 150 Ländern und übersetzen die ausgewählten Texte in 15 Sprachen. Darüber hinaus fördert das Portal neue Blogger durch Workshops, vernetzt die internationale Bloggergemeinde auf eigenen Konferenzen und bietet ihnen juristischen Beistand.

Eine Parzelle auf dem sechsten Kontinent

Das Internet, dieser „sechste Kontinent“ ist groß, seine Besiedelung wird wohl niemals enden. Hier haben auch Landlose und Entrechtete die Chance ihre Parzelle abzustecken. Kein Wunder, dass nirgends eine solche Begeisterung für die neuen Medien zu spüren ist wie in den sogenannten Entwicklungs- und Schwellenländern. Schon ist von „leap-frogging“ die Rede, vom digitalen Bockspringen: Auf dem Weg in die Online-Welt lassen Randgruppen weniger effiziente Entwicklungsschritte der westlichen Welt einfach aus. Keidy und Rezwan sind in kürzester Zeit Experten und Multiplikatoren geworden – dennoch verdienen bis heute keine Rupiah und keinen Taka mit ihrer Arbeit.

Als Global Voices 2007 das Tochterportal Rising Voices aufbaute, war Rezwan von Anfang an als ehrenamtlicher Redakteur dabei. Rising Voices verfolgt einen ganz ähnlichen Ansatz wie die britische Video-NGO InsightShare: Beide wollen den Bürgerjournalismus auf eine Graswurzelebene bringen, von einer städtischen Elite in die ländlichen Regionen, zu Kindern und alten Menschen. Während InsightShare acht Video-Hubs bei indigenen Gruppen und in Ghettos aufgebaut hat, beauftragte Rising Voices 25 lokale NGOs und namhafte Blogger damit, je einer lokalen Gruppe das Bloggen beizubringen.

Blogger als Brückenbauer

Die Ergebnisse sind bis heute auf dem Online-Portal Rising Voices zu verfolgen: Da schreiben Ärzte und Krankenschwestern in einem rumänischen Hospiz über die letzten Tage ihrer Patienten; da bloggen Aktivistinnen im Yemen für die Rechte der Frauen; da schlagen liberische Blogger Brücken zwischen Heimat und US-amerikanischer Diaspora. Die Erfolgsquote des Projekts ist relativ hoch; immerhin zehn bis 20 Prozent der Teilnehmer bloggen auch drei Jahre nach den Seminaren noch, erzählt Rezwan.

Keidy Transfiguracion im Skype-Interview, Screenshot

Unterdessen hat die junge Filipina Keidy Transfiguracion die Leitung des Video-Hubs auf den Philippinen übernommen und gibt eigene Videoworkshops – unter anderem auf der Südinsel Mindanao, wo sich muslimische Rebellen und Zentralregierung bekämpfen. Für ihr Engagement hat sie Drohungen von der Regierung erhalten, sie und ihre Kollegen fühlen sich beobachtet. Aber aufgeben? Keidy lächelt hintergründig. Es ist das Lächeln von Fernando Mangili, es scheint zu sagen: Unser Volk hat schon Schlimmeres erlebt.

Bald schon wird die 23-Jährige selbst Videotrainer ausbilden, die Nachfrage ist groß. Mit ihrem allerersten Film aus dem Dorf Garrison ist sie im Dezember 2009 zur Klimakonferenz nach Kopenhagen gereist. Eine offizielle Akkreditierung für die Konferenz hat sie wie viele NGOs nicht bekommen, doch auf dem zivilen Gipfel erhielten die Bürgerjournalisten stehende Ovationen. Und Keidy konnte es der Welt einmal sagen: „Wir Indigenen haben am wenigsten zum Klimawandel beigetragen, doch wir leiden am meisten darunter.“ Am anderen Ende der Erde hält ein Dorf den Atem an.

Mehr im Web
Online-Portal „Global Voices“: Fakten zum Bürgerjournalismus (in englischer Sprache), 4. Juni 2010
Sourcewatch: List of Citizen Journalism Websites, 4. Juni 2010
Website der NGO InsightShare: What is Participatory Video? (Video, 3:14 Minuten, (in englischer Sprache), 4. Juni 2010
Website der NGO InsightShare: Es-Esel Ja Eparas/ Voices of Experience, (Video, 17:29 Minuten, in englischer Sprache), 4. Juni 2010
Website der NGO InsightShare: Vorstellung der acht weltweiten Video-Hubs (in englischer Sprache), 4. Juni 2010
Online-Portal „Rising Voices“: Active Rising Voices Projects (in englischer Sprache), 4. Juni 2010
Online-Portal „Global Voices“: Aktuelle ausgewählte Artikel, 4. Juni 2010
Online-Portal „Global Voices“: Bedrohung von Bürgerjournalisten weltweit (Karte), 4. Juni 2010
Blog von Rezwan: The Third World View, 4. Juni 2010
Online-Portal „Global Voices“: Manifest, http://globalvoicesonline.org/about/gv-manifesto/german/, 4. Juni 2010
Blog von Ushahidi: Afrikanisches Kriseninformationsportal, das via Crowdsourcing funktioniert, 4. Juni 2010
Readers Edition: Größtes deutschsprachiges Bürgerjournalismus-Projekt, 4. Juni 2010

Titelbild: Keidy zeigt Dorfbewohnern ihre Arbeit, Filmstill: InsightShare, CC-by-nc-nd 2.0