Auf die Plätze, fertig, lies!

Den Geschäftsbericht im Taxi, den Ulysses in der Mittagspause, diesen Text in einer Minute – wie viel Zeit wir sparen könnten, wenn wir nur schneller lesen würden! Keine Utopie, versprechen Lesetrainings. Selbstversuch einer Skeptikerin.

veröffentlicht in der Welt, in der Welt Online >> und in der Berliner Morgenpost vom 29. Januar 2012

Junge Leute, die sich an einem Samstagmorgen um eine Stoppuhr versammeln? Was um alles in der Welt tun wir hier bloß? Das muss sich der Hausmeister auch gedacht haben, der mich eben erst am Ende eines langen Flures der Freien Universität Berlin empfing: “Zum Lesetraining?” Entgeistertes Kopfschütteln. “Ja, können Sie das denn noch nicht?”

Doch können wir, wie Grundschüler eben: “Junge – Leute – die – sich …” Für diesen Text hätte ich zu Anfang des Kurses noch drei Minuten gebraucht; mit den entsprechenden Kniffen wäre er in einer Minute zu bewältigen. Und dafür sind wir hier: Eine Schauspielerin, die ihre Dramentexte schneller verinnerlichen will; ein “fauler Student”, der durch schnelleres Lesen mehr Freizeit herausschlagen möchte; ein französischer Historiker, der mehr Routine im Lesen deutscher Texte braucht; ein Physiker, der beim Lesen oft abschaltet. Und ich, Literaturwissenschaftlerin und Literaturliebhaberin, der die Skepsis ins Gesicht geschrieben steht. “1000 Wörter pro Minute sind schon drin”, sagt Kursleiterin Susanne Steinborn. Zu welchem Preis?, denke ich.

Speed Reading, Alphareading, Improved Reading: Kurse, die eine Verbesserung der Leseeffizienz um 100, 200, ja 500 Prozent versprechen, sind schwer im Kommen. Die Idee ist einleuchtend: Lesen lernt man in der Grundschule und redet dann nicht mehr darüber. Doch ein Erwachsener hat einen größeren Wortschatz, mehr Selbstsicherheit und Routine als ein Siebenjähriger. “Es ist wie mit dem Schreiben”, sagt Steinborn. “Das können wir auch alle, aber wer einmal gelernt hat mit zehn Fingern zu tippen, möchte es nicht mehr missen.”

Die Methode “Improved Reading” (Besser Lesen) wurde schon 1972 vom australischen Industriepsychologen Barrie O. Pettman entwickelt, nachdem dieser festgestellt hatte, dass es in Unternehmen vor allem an der Leseeffizienz haperte. 2001 brachte der ehemalige Konzernmanager Wolfgang Schmitz die Methode nach Deutschland, wo mittlerweile 15.000 Studenten und Unternehmensmitarbeiter die Kurse besucht haben. Unter den Kunden sind namhafte Unternehmen und Organisationen, von Procter & Gamble über die Deutsche Telekom bis zum Europäischen Patentamt.

Der Kurs ist streng durchgetaktet, die Pausen kurz, untereinander gesprochen wird wenig. Die Konzentration liegt schwer im Raum.

Mit dem Rate Controller, einem geistigen Folterinstrument aus 70er-Jahre-Plaste, kontrollieren wir unsere aktuelle Lesegeschwindigkeit. “Ungeübte Leser unterfordern sich”, erklärt Steinborn. “Sie lesen durchschnittlich 200 Wörter pro Minute, obwohl ihr Gehirn 800 bis 1000 verarbeiten könnte und dabei mehr verstehen würde.”

Ich versuche diesen Wert einzustellen, aber das Rad klemmt – so weit kommen wohl nicht viele. Stattdessen versuche ich die langsamste Einstellung: Der Schieber kriecht über mein Buch und ich lese aus lauter Langeweile sogar die Satzzeichen mit; am Seitenende kann ich mich nicht mal mehr an das Thema erinnern. Schneller lesen und mehr verstehen – was ich für einen Widerspruch hielt, ist offenbar keiner.

Doch am zügigen Lesen hindert uns vor allem einer: unser kleiner Mann im Ohr. Fast alle Leser sprechen den Text lautlos mit – nicht, weil das zur Deutung der Schriftzeichen nötig wäre, sondern weil wir dies in der Grundschule so gelernt haben. Da unser “Vorleser” jedoch nicht über 350 Wörter pro Minute hinauskommt, bremst er uns aus; wer schneller lesen will, muss die Stimme auf die wichtigsten Stichwörter beschränken.

Leichter gesagt als getan. Mein Vorleser ist hartnäckig. Doch der Schieber des Rate Controllers zwingt unseren Blick vorwärts – ohne Zeit für Rückwärtssprünge oder ein tieferes Verständnis. “Mit Ehrgeiz funktioniert das nicht”, ruft Steinborn. “Wer nichts versteht, macht es erst einmal genau richtig!” Und tatsächlich: Bei einem besonders langweiligen Text, als ich schon aufgeben will und nur noch mechanisch über den Text springe, verstummt die Stimme. Ohne es zu forcieren, habe ich das meiste verstanden – und das trotz des Kamikaze-Tempos.

Conny Krause, Schauspielstudentin und Sprecherin aus München, unterbricht das mechanische Treiben. “Moment mal! Ich kann doch nicht so leichtsinnig über meinen Shakespeare hüpfen!” Poesie und die großen Klassiker der amerikanischen Literatur klammert die Methode wohlweislich aus; 99 Prozent der modernen Romane könne man hingegen in hoher Geschwindigkeit lesen, erfahren wir im Übungsbuch. Aber ist schöne Literatur nicht mehr als ihr Inhalt? Lässt sich Joyces Ulysses zusammenfassen als Geschichte von zwei Männern, die durch Dublin irren und einer Frau, die zu Hause bleibt? Wohl kaum.

Am Ende habe ich mich von 345 auf 550 Wörter pro Minute gesteigert ohne nachweisbar Verständnis einzubüßen. “Da ist noch mehr drin”, ermuntert Steinborn. “Langjährige Gewohnheiten lassen sich nicht in zwei Tagen umstellen.” Zeitmanagement-Guru Alec Mackenzie hat einmal ausgerechnet, dass Studierende jährlich zwei Monate Lernzeit sparen, wenn sie ihre Leseeffizienz verdoppeln. Das hätte mir vor zehn Jahren mal jemand sagen sollen!

Für den Ulysses hätte ich mir aber trotzdem Zeit genommen.