Ansichtskarte aus Göttingen

“Hier rempeln die zukünftigen Kleriker und Manager, Bundesrichter und Berufszyniker einträchtig am Kaffeeautomaten vorbei und tun ein letztes Mal so, als wüssten sie nichts von ihrer zukünftigen Fehde.” Böse Glosse aus meiner geliebten Unistadt

In der Campusdämmerung wirkt der Turm der fernen Jacobikirche wie nur für diesen Anblick gebaut. Zu anderer Stunde habe ich ihn nie so wahrgenommen; drinnen war ich erst recht noch nicht und seit an seiner Pforte das Schild „Die Kirche ist offen!“ prangt, ist jeglicher Rest von Neugierde auch im Keim erstickt. Er leuchtet grün und gelb inmitten eines tiefblauen Winterhimmels – und es scheint, als tue er das schon so lange, dass er seinerseits Himmel und der Himmel ein bisschen jacobi geworden ist. Seine Ränder wapern unscharf als gäbe es gar keinen soliden Turm, als hätte sich nur sein Licht oder die Erinnerung daran in den Himmel eingebrannt, beide zweidimensional ineinander verklammert.
UNSER Kirchturm zitiert noch die Farbe ihres Dachs, aber steht uns ansonsten schief und echt wie ein aus der Tasche gefallener Bleistift gegenüber – ein postmodernes Stück Kunst, das isoliert und zufällig in die Höhe strebt. Wenn es seinen nackten Finger gen Himmel reckt, dann nicht wie ein überirdischer Streber. Dann ist diese Geste Herausforderung. Inzwischen mehr Litfasssäule als Kunstwerk, ganz transzendentlos, einer von uns, der an unserer Statt an der SUB ausharrt, wenn wir ja eigentlich auch dort sind, noch eigentlicher aber im Bett liegen. Er ist der Vorposten der studentischen Zivilisation und markiert inmitten des Dorfes diese Stadt, die so viele Viertel hat – ‚Exzellenzzentren’ und autonome Kommunen, zwischen denen wir so geschickt lavrieren und multikultivieren bis zur Herauskatapultierung. Hier weiß noch niemand etwas von Steuererklärungen und Eigenheimzulagen und drum werden jedes Semester wieder eigene Gesetze erfunden, die sich nur nach dem lautesten Entwurf, nicht nach dem Veto richten: Die Stöckelschuhpflicht für Juristinnen ist alt, doch seit kurzem sind rosa Polohemden hinzugekommen (gar nicht so einfach, wo H&M doch sicher nur ein paar Hundert auf Lager hatte)… Oder etwa die Aktiendiskurse der männlichen Arroganzelite, immer ausstaffiert mit FAZ, schwarzem (halbleerem!) Aktenkoffer und blondem Lachpüppchen, die um die obersten Ränge der Rotunde dröhnen – dort wo man alles so schön unter Kontrolle hat und mit einem Blick oder einem Schachzug den Kommilitonen abschießen könnte. Ja, könnte, denn damit lässt man sich ja noch Zeit bis nach dem Abschluss… Dieser Konjunktiv allein macht unser Reich so friedlich: ein wahrer Spielplatz zwischen seinen Fahrradfetischisten und Kaffeepottklauern, auf dem aber, wie mir an der endlos rotierenden Spiegeltür der Unibibliothek regelmäßig aufgeht, die gesellschaftlichen Katastrophen und Rettungen der nächsten 40 Jahre vorbereitet werden. Hier rempeln die zukünftigen Kleriker und Manager, Bundesrichter und Berufszyniker einträchtig am Kaffeeautomaten vorbei und tun ein letztes Mal so, als wüssten sie nichts von ihrer zukünftigen Fehde.